M. Mayar: The American Child and the Cartographic Pedagogies of Empire

Cover
Titel
Citizens and Rulers of the World. The American Child and the Cartographic Pedagogies of Empire


Autor(en)
Mayar, Mahshid
Erschienen
Anzahl Seiten
XIII, 239 S.
Preis
$ 32.95
Rezensiert für die Historische Bildungsforschung Online bei H-Soz-Kult von:
Norman Henniges

Raumbezogene Medien für den Erdkundeunterricht, wie unter anderem Lehrbücher, Atlanten, Karten, Bilder und Globen, aber auch Kinderbücher und Spiele zur Unterhaltung waren im 19. und 20. Jahrhundert nicht nur zeitgenössische Repräsentationen, sondern auch materielle Bestandteile von soziokulturellen Vermittlungspraktiken, die entscheidend an der Konstruktion von gesellschaftlichen Raumimaginationen beteiligt waren.1 Durch alltägliche Praktiken des Gebrauchs trugen sie wesentlich dazu bei, raumbezogene Wahrnehmungs- und nicht zuletzt auch Handlungsmuster über die Nation und die Welt im imperialen Zeitalter zu formatieren. Historische Forschungsarbeiten über Praktiken des Konsums, der Aneignung und des Gebrauchs raumbezogenen Wissens sind eine jüngere Entwicklung und vergleichsweise unterrepräsentiert.2 Vor allem die Wahrnehmungen von Kindern und Jugendlichen als Konsumenten stellen größtenteils noch blinde Flecken in der historischen Forschung dar. Die Ursachen für dieses Forschungsdesiderat liegen vor allem in der schwierigen Quellenlage begründet, da häufig jene Quellen in der Überlieferung fehlen, die Rückschlüsse erlauben, wie geographisches Wissen von Kindern und Jugendlichen aktiv rezipiert wurde.

Mahshid Mayar versucht mit ihrer Monografie, einen Teil dieser Forschungslücken am Beispiel eines ausgewählten Quellenkorpus zur Geschichte der Vereinigten Staaten um 1900 zu schließen. Hinsichtlich der vorausgehenden Forschung baut das Buch unter anderen auf den wegweisenden Arbeiten von Susan Schulten und Martin Brückner auf, in denen die Nationalisierung der amerikanischen Bildung durch raumbezogene Schulmedien bereits umfassend thematisiert wurde.3 Gleichwohl betritt die Autorin durch die Quellenauswahl und ihre Methoden einiges Neuland und fokussiert sich im Gegensatz zu Schulten und Brückner auf die Frage, wie sich amerikanische Kinder der Jahrhundertwende räumliche Vorstellungen über die Vereinigten Staaten und der Welt aneigneten und reproduzierten. Vor dem Hintergrund des ausgreifenden amerikanischen Imperialismus wird verfolgt, welche verschiedenen Rollen Kinder der weißen Mittelschicht als Schüler:innen, Karten- und Rätselbastler:innen, Briefeschreiber:innen oder Spielkamerad:innen einnahmen.

Das Buch umfasst vier Kapitel, die von einer ausführlichen Einleitung und einer Schlussbetrachtung eingefasst sind. Im ersten Kapitel wird zunächst der Kontext der amerikanischen Hochschulgeographie und Schulgeographie sowie das Konzept des eng an die deutsche ‚Heimatkunde‘ angelehnten Faches ‚home geography‘ im Verhältnis zu den zeitgenössischen Bildungsstandards im späten 19. Jahrhundert erläutert. Hier wird deutlich, wie stark die Kinder der amerikanischen Mittelschicht von dem ursprünglich eher ortsbezogenen Ansatz der ‚home geography‘, der zunehmend auf nationale und globale Perspektiven ausgedehnt wurde, geprägt waren.

Im zweiten Kapitel wird dargestellt, wie Geographie als Mittel der Unterhaltung und Bildung für Kinder in Form von Büchern, Spielzeugen sowie kartographischen Brettspielen und Puzzles eingesetzt wurde, um wirkmächtige Raumvorstellungen der Nation und des sich vergrößernden Imperiums in Übersee zu schaffen. Spiele wurden zu einem pädagogischen Mittel der nationalen Identifikation in Abgrenzung zu Orten und Menschen, die nicht diesen Normen entsprachen. ‚Heimat‘ wurde darüber definiert, dass man sich selbst als „civilized“ betrachtete und Andere als „non-civilized“ (S. 79). Dabei macht die Autorin deutlich, dass der Prozess der spielerischen Aneignung von Raumwissen keineswegs harmlos war. Interessant sind die Überlegungen hinsichtlich des Aktes des Zerschneidens von Kartenpuzzles in kleinere Einheiten, welche die Autorin mit der Gewalt kolonialer Grenzziehungspraktiken gleichsetzt. Inwieweit Kinder durch ihre fantasiegetriebenen Aneignungspraktiken, nicht nur passive, sondern als „reinscriptive cartographers“ (S. 66-67) selbst zu Akteuren wurden, die den gewaltvollen kolonialen Prozess spielerisch reproduzierten, ist sicherlich eine der spannendsten Überlegungen, die auch im Hinblick auf die Präformierung des Handelns der späteren Erwachsenen noch zu vertiefen wäre.

Gleichwohl bleibt die Quellenlage hinsichtlich der Frage nach der visuellen Wahrnehmung begrenzt. Konkrete Beispiele der kindlichen Wissensproduktion, wie zum Beispiel Kartenskizzen und Zeichnungen (mental maps), welche Rückschlüsse auf die visuelle Umsetzung des Imaginierten und damit die mentale Weltaneignung liefern, fehlen vollständig. Statt um die von Kindern hergestellten Karten, die offenbar nicht überliefert sind, geht es in den darauffolgenden Kapiteln vor allem um die Analyse der kindlichen Textproduktion der in den Jugendzeitschriften veröffentlichten Leserbriefe. Wenngleich diese Texte durch das Fehlen der eigentlichen mentalen Kartenskizzen nur einen Teil der raumbezogenen Wahrnehmung wiedergeben können, ist allein die Auswertung dieser Quellengruppe enorm bereichernd und als wesentlicher Verdienst dieser Arbeit zu sehen.

Im dritten Kapitel werden die Briefe und selbst erstellten Rätsel von Kindern, die an die Redaktionen von Kinder- und Jugendzeitschriften gesandt und dort veröffentlicht wurden, zunächst vorgestellt. Schließlich findet im vierten Kapitel die eigentliche Auswertung der Leserbriefe statt. Hier wird genauer untersucht, was schreibende Kinder in Bezug auf die eigene Nation wahrnahmen und wussten. In den Briefen beschrieben amerikanische Kinder häufig die Orte, aus denen sie stammten, indem sie diese mit jenen Orten und Menschen verglichen, von denen sie gelesen oder gehört hatten, oder die sie tatsächlich von ihren Reisen im Ausland kannten beziehungsweise begegneten. Die kindlichen Raumvorstellungen, die sich über diese Quellen nachvollziehen lassen, wie zum Beispiel selbst entworfene geographische Rätsel, zeigen daher wie Kinder diese auf spielerische Art mit dem amerikanischen Imperialismus verknüpften und zwischen dem ‚Eigenen‘ und der Welt der ‚Anderen‘ differenzierten.

Die Autorin geht davon aus, dass die Kinder nicht einfach nur durch den imaginierten Raum geformt wurden, sondern durch ihren eigenen kreativen Umgang mit dem Material der Erwachsenen als Kartograph:innen in eigener Sache diesen Prozess als Interpret:innen aktiv mitgestalteten, indem sie das kartographische und geographische Material, dem sie ausgesetzt waren, sich auf ihre Art und Weise aneigneten und daraus neue Interpretationen schufen. Die Motivation für die Gestaltung geographischer Rätsel lag somit nicht nur in der bloßen Demonstration geographischen Wissens, sondern darin, dass die Kinder sich selbst zu Gestalter:innen machten, indem sie durch das Spiel und den kreativen Umgang ihren eigenen Vorstellungen Gestalt verleihen konnten. Demnach waren Kinder nicht nur passive Rezipient:innen, sondern durch die Aneignung beim Kartenlesen, der kreativen Neuanordnung bei der Erstellung der Puzzles und schließlich der Publikation in den Jugendzeitschriften sogar aktiv am Konstruktionsprozess beteiligt.

Abschließend seien noch einige kritische Anmerkungen gestattet: Der erste Punkt betrifft nach Meinung des Rezensenten die etwas missverständliche Verwendung der Ansätze der „cognitive“ sowie „mental map“, die beide von der Autorin gleichgesetzt, aber eigentlich unterschieden werden müssen (S. 16). Mit dem ersten Begriff sind vor allem die internen neurologischen Wahrnehmungen gemeint, mit dem zweiten Begriff, der individuelle zeichnerische Ausdruck einer räumlichen Vorstellung in Form einer Kartenskizze.4 Um was es der Autorin aber tatsächlich geht, ist die Verschränkung der individuellen Intentionalität mit den gesellschaftlichen beziehungsweise kollektiven Vorstellungen und raumbezogenen Wissensformen.5 Hier wäre es hilfreicher, stärker vom konstruktivistischen Konzept der (Raum)Imagination auszugehen (das gelegentlich durchschimmert, aber nicht näher definiert wird), um die sowohl visuellen als auch textlichen Narrative in Beziehung zu jenen spezifischen gesellschaftlichen, kulturellen und nicht zuletzt machtbezogenen Kontexten zu setzen, um die es der Autorin in der Untersuchung eigentlich geht.6

Auch die Beschreibung der geographischen Medien und Gebrauchspraktiken mit dem bereits seit 1899 vorhandenen, aber erst allmählich gebräuchlichen Begriff der ‚Geopolitik‘ erscheint historisch überbewertet. Das Konzept war um die Jahrhundertwende erst im Entstehen begriffen. Zwar wurde es bereits von amerikanischen Hochschulgeograph:innen rezipiert, verbreitete sich jedoch erst spät. Die amerikanische ‚home geography‘ stand um 1900 vorrangig unter der Dominanz der naturdeterministischen Ansätze der Physischen Geographie, in die der Mensch als treibende Kraft bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges (vor allem in der Handelsgeographie) im Unterricht eine immer größere Beachtung fand.7 Was die Autorin (zumindest mit den gezeigten Abbildungen von Spielen) als „practice lessons in geopolitics“ (S. 67) oder als „geopolitical imaginaries“ (S. 73) beschreibt, bezieht sich aller Wahrscheinlichkeit nach weniger auf zeitgenössische geopolitische Konzepte im engeren Sinne, sondern auf die klassische Staatengeographie.

Die hier genannten Kritikpunkte zu den methodischen Überlegungen oder der Begriffswahl mindern jedoch keineswegs den Gesamtwert dieser Arbeit. Insgesamt ist das Buch ein wesentlicher Beitrag für das Verständnis der Entstehung von kindlichen Raumimaginationen im Zeitalter des Hochimperialismus, der vor allem bei der Analyse des empirischen Teils überzeugt, in denen Kinder einen sehr eigenwilligen Umgang in der Interpretation des amerikanischen Imperiums zeigten. Für die bisher zu wenig beachtete Perspektive auf die Praktiken des Gebrauchs raumbezogener Medien stellt diese Arbeit einen wichtigen Schritt dar und es ist zu hoffen, dass ähnliche Arbeiten in diese Richtung folgen werden.

Anmerkungen:
1 Maren Möhring / Gabriele Pisarz-Ramirez / Ute Wardenga, Raumimaginationen und Verräumlichungsprozesse, in: Matthias Middell (Hrsg.), Verräumlichungsprozesse unter Globalisierungsbedingungen I, Leipzig 2021, S. 101–147. Siehe exemplarisch: Ina Katharina Uphoff / Nicola von Velsen (Hrsg.), Schaubilder und Schulkarten. Von Bildern lernen im Klassenzimmer, München 2018; Ernst Strouhal, Die Welt im Spiel – Atlas der spielbaren Landkarten, Wien 2015.
2 Matthew H. Edney, Cartography. The Ideal and its History, Chicago 2019, S. 46, S. 228–237.
3 Susan Schulten, The Geographical Imagination in America, 1880–1950, Chicago 2001; Martin Brückner, The Social Life of Maps in America, 1750–1860, Chapel Hill 2017.
4 Siehe auch: Edney, Cartography, S. 66.
5 Antje Schlottman / Jeannine Wintzer, Weltbildwechsel. Ideengeschichten geographischen Denkens und Handelns, Bern 2019, S. 239–240.
6 Möhring / Pisarz-Ramirez / Wardenga, Raumimaginationen, S. 101–106.
7 Schulten, Geographical Imagination, S. 105–107.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit der Historischen Bildungsforschung Online. (Redaktionelle Betreuung: Philipp Eigenmann, Michael Geiss und Elija Horn). https://bildungsgeschichte.de/